Die Erfindung des Gegenwartstheaters. Eine Wissensgeschichte des Theaters der 1970er Jahre (AT)

  • Forscher*in: Thekla Sophie Neuß
  • Institution: Freie Universität Berlin
  • Betreuer*in(nen): Prof. Dr. Jan Lazardzig

Wie verschiedentlich argumentiert, werden Erfahrungsräume und Zeitpolitiken westlicher Gesellschaften seit den 1970er Jahren maßgeblich durch die Kategorie der Gegenwart strukturiert (u. a. Gumbrecht 2010; Sarasin 2021). Das Projekt nimmt in kritischer Auseinandersetzung mit solchen Diagnosen eine Historisierung des Konzepts „Gegenwartstheater“ vor, dem in der Theaterwissenschaft und für die künstlerische Praxis zwar ordnende Funktion zukommt, das bisher allerdings nicht auf seine historischen und normativen Gehalte befragt worden ist (vgl. zur „Gegenwartskunst“ Rebentisch 2013). Dafür werden wissensgeschichtlich aufschlussreiche Schauplätze fokussiert, auf denen Gegenwart für Theater und Theaterwissenschaft in der BRD zum zentralen Zeitregime avanciert (im Gegensatz bspw. zur „Tradition“ oder geschichtstheoretischen Teleologien): wie etwa wissenschaftstheoretische Diskurse und mediengeleitete Praktiken der Theaterwissenschaft in den 1970er Jahren, in denen „Rekonstruktion“ als maßgebliche Methode an Überzeugungskraft verliert. Oder aber internationale Festivals, deren kuratorisches Prinzip ausdrücklich auf das Zeigen eines globalen Gegenwartstheaters zielt, wie das 1979 zuerst stattfindende Theater der Nationen (ab 1981: Theater der Welt). Gegenwart wird dafür diskurs-, medien- und praxishistorisch in der BRD der 1970er Jahre verortet: Was wurde hier unter Gegenwart und Gegenwartstheater verstanden? Welche ästhetische, epistemische und politische Funktion hatte Gegenwart und wie wurde diese in der künstlerischen Praxis reflektiert, legitimiert oder in Frage gestellt? Wen und was schließen Gegenwartskonzepte in dieser Zeit ein oder aus? Gegenwart wird dabei nicht als gegeben und verfügbar, sondern als herstellungs- und legitimationsbedürftig verstanden. Das Projekt legt damit einen Fokus auf die medialen, institutionellen und politischen Bedingungen dieser Produktion.

Thekla Sophie Neuß studierte Theaterwissenschaft und Religionswissenschaft in Berlin und Ljubljana. 2021-2023 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, seit 2022 koordiniert sie die interdisziplinäre Initiative „Akademisierung der Künste“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.